Sonntag, 6. Februar 2011

Ente mit 24 Gewürzen

Ich saß im Flugzeug und dachte an Ente. An Ente mit 24 Gewürzen, die ich am Tag vorher beim Inder ums Eck gegessen hatte. Mir war schlecht. Ich versuchte den wieder heraufbeschworenen Duft aus der Nase zu bekommen und gleichzeitig den Flugzeugmief nicht einzuatmen. Das gelang mir fast, dann rauschte wieder die Stewardess an meinem Sitz vorbei und verströmte ihr süßes Parfum, das nach Schokolade roch. Mir wurde noch schlechter. Ich zog vorsichtshalber die Tüte aus dem Schlitz von meinem Vordersitz. Zur Nachbarin schaute ich nicht, ich konnte mir vorstellen, was sie jetzt dachte. Sie hatte doch den Fensterplatz gewählt und hoffte natürlich, ich würde nicht in ihre Richtung kotzen. So schnell kann aus einem Gefühl der Freiheit ein beengendes Gefühl werden.
Ich beschloss an etwas Schönes zu denken. Das war mir früher bei Autofahrten ans Meer als Kind doch auch gelungen. Aus meiner rechten Hirnhälfte meldete sich der Statistiker mit einer verschwindend kleinen Anzahl gelungener Versuche. Vor mir sah ich wieder die Warnblinker vom Golf meines Vaters auf dem Pannenstreifen der Autobahn und mich irgendwo über die Leitplanke gebeugt neben meiner Mutter. Eltern sein ist auch nicht immer leicht und ich glaube es gibt so Momente, in denen sie sich denken: „Warum dieses Kind?“
Still verfluchte ich jedes dieser 24 Gewürze und versuchte sie mir einzeln vor Augen zu führen. Aber weiter wie bis Curry kam ich nicht und das ist doch bereits eine Gewürzmischung. Ich wollte aufstehen und mich in Richtung Toilette bewegen, nur prophylaktisch, vielleicht würden ein paar Schritte den Magen wieder in Ordnung bringen, vielleicht waren wir in nur für mich fühlbare Turbulenzen geraten und mein Magen war deshalb flau, vielleicht war es gar nicht die Ente und alles wäre in fünf Minuten besser. Doch die Stewardessen versperrten mit Essensausgabe den Weg. Ich blieb sitzen und starrte angestrengt auf den rosaroten Vorhang, der die erste Klasse von der Zweiten teilte. Grüne Sitze, rosa Vorhänge, wir flogen mit einer orientalischen Airline. Es gab passend dazu Chicken arrabique mit Reis und Crème brulèe, aber der Geruch des Mikrowellenessens hatte mich zum Glück noch nicht erreicht.
Eine Ente mit 24 Gewürzen in einem einzigen Essen, ist doch mehr als übertrieben. Aber unsere Gesellschaft hat sich langsam an Übertreibungen gewöhnt. Wie wichtig ist doch dieses Wörtchen „mit“ in unserem Sprachgebrauch geworden. Kaum mehr etwas steht für sich allein. die Päckchensuppen gibt’s mit Vitamine, die Taschentücher mit Aloe Vera, die Rasierklingen ebenso und dazu noch mit Batterie, Trimmer und absturzsicherer Halterung. Studenten studieren jetzt mindestens drei Fächer mit Spezialisierung, die Tageszeitung kommt immer öfter mit Beilage. Die Welt ist komplizierter geworden, es gibt immer mehr Informationen, die es zu filtern gilt. Die Produkte häufen sich und es wird schwieriger auf dem neuesten Stand zu bleiben, sich täglich weiterzubilden. Aber wer schafft das schon. Oft nicht einmal die Fachkräfte. Der Mensch hat gelernt wieder seinen Instinkten zu vertrauen und vermutet instinktiv bessere Produkte hinter Wörtern, die er nicht versteht. Deswegen wollen viele jetzt nicht mehr nur eine Antifaltencreme, sondern die spezielle Antifaltencreme mit Ascorbinsäure, oder Kaugummis mit Xylit und LCD-Fernseher mit 24p.
Der Dioxynskandal, der zurzeit Deutschland heimsucht, hat in Italien bereits im letzten Jahr grassiert. Und ähnlich wie in Deutschland beim Fleisch hat er die Italiener mitten ins Herz getroffen. Die Mozzarella war nicht mehr gut. Und zwar noch schlimmer die Büffelmozzarella, auf die Italien so stolz ist und die zum Überleben gehört wie Pizza und Pasta. Ganz Italien war schockiert, das Thema ging durch alle Medien, wie in Deutschland beachtete dabei niemand, dass es sich bei der Überschreitung der Werte um Mengen handelte, die noch vor wenigen Jahren der Norm entsprachen und bedenkenlos über den Ladentisch gingen. Jedenfalls wollte niemand mehr Mozzarella kaufen, schon gar nicht in den Supermarktketten, die den Konsumenten alles unterjubeln. Mein Vater, der bei uns zu Hause immer die Einkäufe erledigt, ging deshalb in den Bioladen nicht weit von unserem Haus. Er trat in das kleine Geschäft, sah sich um, und anders als in den anonymen Superketten, kam ihm gleich eine freundliche Verkäuferin in ihrem ersten Lehrjahr entgegen. Mein Vater brachte höflich seinen Wunsch vor und sagte, er hätte gerne drei Büffelmozzarella. Dann hielt er kurz inne und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Aber die mit Dioxyn.“ Die Verkäuferin lächelte freundlich aber inhaltslos zurück und antwortete ernst: „Kommt sofort.“ Und verschwand im hinteren Bereich des Geschäfts.

Montag, 29. November 2010

Uns bleibt immer Paris

Ich hatte mich bereits seit Wochen auf Paris gefreut, was gibt es Romantischeres für ein Liebespaar Mitte zwanzig als einen Trip in diese traumhafte Stadt. Es kursieren so viele klischeehafte Meinun-gen von Paris: Paris im Frühling, Hand in Hand mit dem Liebsten durch die Straßen flanieren, an einem lauschigen Plätzchen sich gegenseitig Liebeserklärungen in die Ohren flüstern, sich hoch oben am Eiffelturm zu küssen und zu verloben, am Jardin du Luxemboug die Kirschblüten zählen usw. usf.
Ich verbrachte Tage damit vor mich hin zu summen: "Ganz Paris träumt von der Liebe...." Jedes Mal, wenn mir mein Freund über den Weg lief habe ich mich schmachtend an ihn geworfen und geflüstert: "Uns bleibt immer noch Paris." Er hat nur geantwortet: "Was willst Du damit sagen Ma-rion." Ich: "Casablanca, klingelts?" Es hat nicht geklingelt, aber das war egal, wir würden unser eigenes unvergessliches Paris haben.

Wir sind dann am 21. Juni in Paris gelandet, am längsten Tag im ganzen Jahr. Ich war sehr aufge-regt, denn es war der Abend der Fête du Musique und die Stadt brummte: hinter jedem Eck eine neue Nationalität, ein neues Instrument, Menschen, die zusammen sangen und musizierten. Ich fühlte mich wie im Paradies. Ich hakte mich an seinem Arm unter und begann meinem Liebsten, wie einem Blinden zu beschreiben, was ich alles sah: Sieh mal Manni, hier, der Mann, der hat diese ganz besondere Hose an, und die Frau und oh das Pärchen, das da auf der Bank engumschlungen hockt und schau mal da links, die Riesenratte und nein sieh da sieh da, so ein Instrument habe ich noch nie gesehen, bon soiree monsieur, siehst Du Manni, ich spreche französisch und was steht da: Boutique du Etoile: Etoile heißt Stern, weil die Straßen am Arc de Triomphe, an diesem Platz, die führen alle sternenförmig dorthin und deswegen weiß ich, dass Etoile Stern bedeutet, ist das nicht aufregend Liebling.

Wir machten das immer so in unseren Urlauben: er hielt mich an der Hand fest und achtete darauf, dass ich nicht gegen den nächsten Laternenpfahl krachte, oder aus Versehen mit Menschen oder kleinen Hündchen kollidierte und ich erzählte ihm alles, was es über den Ort zu berichten gab und welche Geschichten ich glaubte, dass sich hinter den einzelnen Gemäuern verbergen würden.
Ich war so verliebt, die Nacht war wundervoll.

Am nächsten Tag hockten wir uns in einen oben ohne sightseeing Bus und froren uns unsere ver-liebten Hintern ab. Es war zwar Mitte Juni und laut Kalender Sommerbeginn, aber es war arschkalt, windig und es zog wie in einem Hühnerstall in ganz Paris. Aber das war alles überhaupt kein Prob-lem. Mein Freund, der zwei Meter groß war und Schultern hatte wie ein Schrank wusste, dass ich empfindliche Ohren habe, ich kuschelte mich mit einem Ohr an seinen Bauch, versank in seinen riesigen Körper von dem er immer behauptete, dass er im Sommer Schatten und im Winter Wärme spendete und er hielt mir mit seiner Hand mein rechtes Ohr zu. Das war wunderschön, doch dann wurde mir schlecht, ich musste mich wieder gerade hinsetzen, damit ich das Wippen und Schaukeln des Busses aushalten konnte und nicht wildromantisch über Bord kotzte und uns war beiden kalt. Wir beschlossen, dass wir genug gesehen hatten und etwas zu essen. Weil wir jung und eher knapp bei Kasse waren, tappten wir in den erstbesten Touristenschuppen und bestellten das supergünstige Tagesmenü mit drei Gängen. Die Suppe schmeckte nach heißem Wasser, das Schnitzel nach Schuh-sohle und auf das Dessert verzichteten wir ganz. Am Abend gingen wir in ein Hardrock Cafè zum Fußball schauen, denn es liefen gerade die Gruppenspiele der Europameisterschaft in Portugal. Ita-lien gewann zwar das Spiel gegen Bulgarien, schied aber trotzdem in der Vorrunde aus. Ich fand das schade, aber nicht sehr, mein Freund lachte übermütig und wiederholte voller Inbrunst die Wor-te des Moderators: Italie c'est elimine. Ich war stolz auf ihn, dass er auch schon anfing die französi-sche Sprache zu lernen. Die Nacht verlief ruhig.

Am dritten Tag folgte mein persönliches Highlight, der Besuch im Louvre. Ich hatte schon be-fürchtet ich würde zwei Tage benötigen, um der ganzen Kunst gerecht zu werden, die Meisterwerke Boticellis und da Vincis zu betrachten, aber als wir nach zwei Stunden an der Mona Lisa vorbeika-men, meinte mein Liebster das Gemälde käme hinter Glas gar nicht zur Geltung, die Frau auf dem Bild sei hässlich und das Gemälde überbewertet. Er meckerte weiter, dass er jetzt endlich gehen und nicht den ganzen Tag in einem lausigen Museum abhängen wollte. Ich verließ schweren Herzens das „lausige Museum“, wir flanierten dann ein bisschen durch die Stadt, suchten uns besseres Mit-tagessen, kauften ein Baguette, gingen auf den Eiffelturm und setzten uns anschließend in den Park. Am Abend war wieder Fußball angesagt: Deutschland spielte. Mein Freund war sehr großer Deutschlandfan. Wie seine Mutter. Nur seine Großmutter war noch größerer Deutschlandfan gewe-sen. Er meinte, ich würde nur mit der italienischen Fußballgruppe sympathisieren, um ihn zu ärgern. Jedenfalls begann der Fußballabend damit, dass er die gelernten Worte des Vorabends immer wie-der lächelnd wiederholte, Italie c'est elimine, und endete damit, dass ich lernte, dass Deutschland auf Französisch Allemagne heißt und unsere Französischsätze erweiterte auf: Allemagne c'est eli-mine.
Das fand er nicht witzig, er war tief schockiert und wir mussten an diesem Abend früh zu Bett. Die Nacht war sehr kalt. Kein Schatten oder Wärme seinerseits, in der romantischen Stadt Paris, dafür planten wir den nächsten Tag: Ich war dafür auf den Mont Matre zu gehen und Sacre Coeur anzu-schauen, er wollte nach Disneyland. Ich versuchte zu argumentieren, wie wichtig es sei, die zeitge-nössischen Künstler bei ihrer Arbeit zu beobachten, und die Bauten fremder Kulturen kennen zu lernen, er konterte, dass Sacre Coeur doch gewisse Ähnlichkeiten mit dem Disneyschloss hätte und auch eine fremde Kultur sei. Außerdem hätten wir doch mit dem Besuch im Louvre das gemacht, was mich interessiert hatte, also wäre der nächste Tag für seine Interessen reserviert. Er erklärte mir, dass Beziehungen von Kompromissen leben würden. Ich erklärte mich einverstanden und mein Sacre Coeur im Inneren blutete.

Wir standen früh auf und fuhren mit einem Zug weit hinaus von Paris. Er war sehr aufgeregt und erzählte mir, dass er schon als kleines Kind davon geträumt hatte, einmal nach Disneyland zu fah-ren. Ich antwortete, dass ich mir vorstellen konnte, dass kleine Kinder davon träumen. Ich hatte vorher noch nie etwas von seiner heimlichen Leidenschaft für Disneyland gehört und beschloss mich an der Erfüllung seines Kindheitstraumes aktiv zu beteiligen. Ich wollte gute Miene zum bösen Spiel machen, es war sein großer Tag, Louvre und Mont Matre waren doch schon unwiederbringlich verloren, warum sollte er sich also auch noch ärgern. In mir reifte der Vorsatz, mich einfach für ihn zu freuen, und alles mitzumachen, was er machen wollte, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen, dass wir die einzigen Erwachsenen ohne Kinder auf dem Gelände waren. Ich ignorierte den horrenden Eintrittspreis und los gings: wir ließen uns mit dem Space Shuttle in den space shutteln, folgten den Spuren der Piraten in Fluch der Karibik, schauten uns 3D Animationen an, aßen das MickyMaus-Menü, einmal Wurst mit Pommes zum Mittagessen und fuhren Karussell. Ich wehrte mich erfolgreich gegen die übergroßen Plüschtiere, die immer wieder auf uns zusteuerten und mit denen man sich ablichten lassen konnte. Ich fand, dass es ziemlich gut lief und da wir bereits vier Stunden in dem Spaßdings zugebracht hatten, langsam genug wäre. Wie gesagt, zwei Stunden Louvre, vier Stunden Disney, das war doch ein Liebesbeweis. Aber: er wollte davon nichts wissen. Er wollte auf ein Baumhaus. Da entglitt mir doch das Lächeln und ich wurde ernst: "Liebling, Du weißt doch, wir sind am Land aufgewachsen, jeder von uns hatte sein eigenen Baumhaus. Glaubst Du nicht, diese Baumhäuser hier sind eher für die armen Kinder aus der Großstadt, die nie in der Natur spielen konnten. Außerdem ist das Baumhaus hässlich, es ist aus Plastik."

Wir gingen also auf das Baumhaus, das nicht nur hässlich, sondern auch sehr groß war, mit Dach-terrasse. Wir spazierten einmal um das Baumhaus herum und verließen es wieder. Er war glücklich, ich war es, zwar auf andere Weise, aber doch auch und fand, dass die Liebe etwas sehr Großes sei und dass in dem Lied, in dem ganz Paris von der Liebe träumt, nie explizit gesagt wurde, wie diese Liebe denn so war. Ich versuchte, den Songtext umzudichten, aber auf Disneyland wollte mir kein passender Reim einfallen.

Nach sechs Stunden wurde ich langsam müde und begann an die sieben Todsünden zu denken, be-sonders an die mit Hass. Ich forderte ihn freundlich auf zu gehen, er sagte, dass diese einmalige Chance, wenn wir uns doch in Paris aufhielten, genützt werden müsste und bat mich zu verlängern. Nach sieben Stunden stach mir ein kleiner Zug ins Auge. "Komm Schatz, lass uns Zug fahren." flötete ich. Er freute sich wie ein Schneekönig, und war froh, dass ich nach so langer Zeit, auch et-was gefunden hatte, das mir richtig Spaß machte. Wir stiegen in den Zug ein, er klopfte mir auf den Oberschenkel, drückte mir einen Kuss auf die Wange und sagte: "Siehst Du, wie schön das hier ist. Ich liebe Dich." Ich erwiderte seine Liebeserklärung und schmiegte mich an ihn. Fünf Minuten spä-ter riss er mich von der Bank hoch und schubste mich beinahe aus dem Waggon: "Der Zug führt zum Ausgang, los wir müssen aussteigen, schnell. Du wusstest das, du bist die fieseste Frau, die es auf diesem Planeten gibt." Ich war froh, dass er mich nicht als Kater Karlo bezeichnet hatte und konnte ihn überzeugen, dass acht Stunden Disneyland genug waren und wir fuhren mit dem bunt bemalten Zug durch das Cinderellator hinaus. Er wollte noch unbedingt in den Souvenirshop gehen, mit unterdrücktem Zorn fragte ich ihn semihöflich: "Wozu?" Er antwortete: "Weißt Du Marion, es ist so schön in die Gesichter der Kinder zu blicken und das Strahlen in ihren Augen zu sehen." Ich beobachtete ihn, während er sämtliche Plutobleistifte und Mickeymaustagebücher durchstöberte, er sah die Kinder in dem Laden überhaupt nicht, aber seine Augen strahlten.

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Don Giovanni

Wir waren letzte Woche in der Deutschen Oper, Don Giovanni. Pünktlich um 19:00 Uhr ging das Spektakel los, das Orchester setzte ein, langsam füllte sich die Bühne mit Menschen. Ich konnte sie kaum erkennen, ebenso konnte ich die Übertitel nicht lesen, denn ich hatte keine Brille. Kurzsichtig in einem dunklen Raum zu sitzen und versuchen Zeichen zu entziffern, die nur schwammig und schummrig vor Dir aufleuchten, macht keinen Spaß. Ich schaltete auf meinen Gehörsinn um schließlich spreche ich italienisch, aber wenn ein Wort wie Vendetta von einem Sopran drei Minuten in die Länge gezogen und durch Kapriolen und Trällern verzerrt wird, ist es auch recht schwierig, den Wortlaut zu erkennen. Ich dachte, das wird der langweiligste Opernbesuch meines Lebens.

Ich beschloss einfach in mich zu gehen und ließ mich von Mozarts Musik berieseln. Die moderne Inszenierung lief an meinem äußeren unscharfen Auge vorbei, Don Giovanni und sein Diener traten immer wieder gemeinsam auf, die Bauern hielten statt Sensen Golfschläger in den Händen, das Fest in Don Giovannis Haus ähnelte einer dekadenten Party im Berghain. Dann war der erste Akt auch schon zu Ende, der letzte Ton verklang und die Hälfte des Publikums begann zu klatschen. Ich schloss mich an. Die andere Hälfte hingegen, verfiel in laute Buh-Rufe. Das Klatschen wurde heftiger, die Buhs ebenso. Ein klarer Fall von geteilter Anschauung. Die akustische Meinungsbekundung dauerte geschlagene zehn Minuten, die Opernsänger waren längst von der Bühne verschwunden, die Zuschauer merkten, dass der Krieg nur noch zwischen ihnen stattfand, beruhigten sich und gingen in die Pause.
Die Oper begann mir langsam zu gefallen, ich hatte schon in einigen Ländern Opern und Theateraufführungen besucht, aber solche Furore im Zuschauerraum, hatte ich noch nicht erlebt. Und dann ausgerechnet in Deutschland. Ich war fasziniert und erwartete heiße Diskussionen im Foyer, lautstarke Äußerungen der Entrüstung, wie schlecht doch die Inszenierung sei, wie entwürdigend für ein klassisches Stück, so dekadent neumodisch und vulgär auf die Bühne gebracht zu werden. Doch ich täuschte mich, die Zuschauer tranken in Ruhe ihren Wein und warteten auf die Fortsetzung. Ich schloss daraus, dass die Menschen, die ihrem Unmut Platz gemacht hatten, entweder gerade alle auf der Toilette waren, oder das Opernhaus bereits verlassen hatten und dass nach der Pause sicherlich nur noch die Hälfte der Personen anwesend sein würden. Nach dem zweiten Klingeln, das wie eine Eieruhr klang und das nahe Ende der Pause signalisierte, gingen wir wieder in den Saal, die linken und rechten Sitznachbarn und Buhisten drückten sich an uns vorbei oder tief in ihre unbequemen Sessel, und ich merkte wieder einmal, dass in Deutschland alles ganz anders ist. Dass die Deutschen lediglich auf ihr Recht beharren, ihre Meinung kundzutun. Sie wollen gefragt und gehört werden. Aber sie sind dann trotzdem erwachsen genug, um nicht impulsiv die Szene und den Saal zu verlassen, sondern geben jedem noch eine zweite Chance sich zu verbessern. Ich war stolz auf sie. Was für ein reifes und entwickeltes Volk.

Wir setzten uns in Position und waren bereit für den Niedergang Don Giovannis und seine Höllenfahrt. Alles verlief planmäßig, im Berghain war Sperrstunde und Giovanni ging mit seinem Kumpel zu einer Statue. Er begann mit dem Stein zu sprechen, dieser lud ihn zum Mittagessen ein, er reichte ihm die Hand und sagte freudig zu.
Dann geschah das Unerwartete. Während das Publikum den Gesängen der Halbnackten, nur mit irgendwelchen Lederimitaten spärlich bekleideten Sänger auf der rechten Seite der Bühne lauschte, fielen plötzlich links zwei dunkelblau bemalte Neonröhren in den Orchestergraben. Ein Statist hielt kurz inne. Dann war die Oper aus.
Die Musik hörte auf zu spielen, die Opernsänger huschten von der Bühne und nichts. Kein Mensch wusste was passiert war, war die Dekoration auf die Musiker gestürzt oder noch schlimmer auf eines der wertvollen Instrumente, oder war etwa sogar ein Sänger in den Graben gefallen? Auf der Bühne wurde es hektisch: Techniker entfernten in Windeseile die gesamte Beleuchtung, die am Bühnenrand stand, im Graben blieb es immer noch ruhig. Dafür begann sich im Publikum wieder alles zu regen, eine Frau schrie auf Italienisch „Es ist eine Schande“. Da antwortete es dumpf vom Orchestergraben herauf: „Ist hier ein Arzt?“
Wieder Ruhe. Niemand sagte etwas, alle schauten betroffen in die Tiefen des dunklen Orchestergrabens, der so tief zu sein schien, wie die Hölle selbst. Im Saal wurde es heller, die Zuschauer dachten wohl, damit sie besser sehen könnten, schließlich war die Vorstellung bezahlt und noch nicht vorbei. Alle verfolgten die weitere Demontage der Lampen, dann kam endlich ein Sanitäter in die Szene. Die Spannung stieg, die Zuschauer hatten sich von ihren Plätzen erhoben und starrten gebannt in den Orchestergraben. Obwohl es jetzt ruhig war, keine Musik ertönte, keine Startenöre die Sinne begeisterten, schienen das Publikum doch in seiner Aufmerksamkeit gefesselter als zuvor.
Meine Freunde und ich verließen den Saal, Georg ging rauchen, Vera aufs Klo, ich stand noch ein bisschen zwischen Eingang zum Saal und Foyer und beobachtete einen Mann am Ende seines mittleren Alters in einem noblen grauen Anzug. Er blickte voll Interesse in den dunklen Orchestergraben, wo inzwischen die Sanitäter mit einer Infusion hantierten. Die Musiker waren den Sängern hinter die Bühne gefolgt und nur noch die leeren Stühle boten dem unsichtbaren Verletzten Blickschutz. Auf einmal regte sich im Gesicht des Mannes vor mir etwas wie Unruhe, mit der Hand fuhr er in die rechte Hosentasche und hielt sich an irgendetwas fest. Seine Pupillen waren geweitet, sein Körper voll Konzentration und Vorsicht. Ich trat einen Schritt zurück und verschwand aus seinem dezidiert engen Blickfeld. Als er sich in Sicherheit wog, schnellte aus dem Inneren des Textiles eine kleine Digitalkamera, die er bereits in weiser Vorahnung in der Hosentasche eingeschaltet hatte und er knipste in Richtung der Unfallstelle. Ich hatte etwa einen halben Meter hinter ihm gestanden und ihm über die Schulter geschaut, der Mann hatte vor lauter Eile ohne zoom geknipst, außerdem zu weit oben angesetzt. Kurz, das Photo war grottenschlecht, zu erkennen war rein gar nichts und der Aufwand hatte sich kaum für den schmähenden Blick gelohnt, mit dem ich ihm jetzt „Unfallknipser“ in den Rücken tätowierte. Er drehte sich um, sah mich schuldvoll wie ein ertapptes Kind an und verschwand geschäftig im Opernsaal. Was für ein reifes und entwickeltes Volk.
Nach zwanzig Minuten bestieg eine etwas unkoordinierte Inspizientin die Bühne und klärte das Publikum auf, dass ein Statist auf der Bühne kollabiert, in den Orchestergraben gestürzt und dabei auf zwei Musiker geplumpst sei. Da nahmen die Zuschauer wieder das Ruder in die Hand und riefen begeistert und altruistisch „Abbrechen“, was kurz darauf auch geschah.
Alle gingen zufrieden nach Hause: die einen mit schlechten Photos in der Tasche, die anderen mit dem wohligen Gefühl von Schauer, welchen tragische Erlebnisse mit sich bringen, wieder andere mit dem Stolz in der Brust, aktiv zum Geschehen beigetragen zu haben und ich mit der Gewissheit, dass dies die spannendsten Opernvorstellung meines Lebens gewesen war.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Napoli

Ein Problem wird erst dann zum Problem, wenn man es als solches anerkennt und sich mit ihm auseinandersetzt. Alles was erfolgreich verdrängt, totgeschwiegen oder übergangen wird, ist kein Problem. Alles was nicht gesehen, gehört oder ausgesprochen wird, existiert auch nicht.
Eltern ersparen sich durch eine solche Haltung oft viel Ärger im Alltag: heute fuhr ein kleiner Junge in Windeseile gefolgt von seinem Vater auf seinem Fahrrad an mir vorbei: der Junge stürzte auf den fiesen Pflastersteinen und heulte im gleichen Moment los. Ich hatte mich ebenso erschrocken wie das Kind und wollte zu ihm hinlaufen. Der Sturz muss sehr schmerzvoll gewesen sein, ich sah wie ein bisschen Blut floss, und Dreck am Knie des Kindes klebte. Der Junge lag am Boden und ich dachte, der Vater würde gleich von seinem Rad absteigen und sich sorgenvoll über seinen Junior beugen und seine Wunden begutachten. Der Vater aber begann nur laut zu lachen, er hörte nicht damit auf und insistierte darauf, dass überhaupt nichts geschehen sei: Er wiederholte diesen Satz zehnmal innerhalb einer Minute in einem fröhlichen, doch sehr bestimmten Ton, aber das Kind beruhigte sich nur schwer. Als er jedoch das Satzgefüge auf: „Dir ist sicher nichts passiert, ich habe es doch gesehen“ erweiterte, vergaß der Junge seinen Schmerz und vertraute auf die Weisheit seines Vater. Dieser fügte noch ein erzieherisches „Fahr jetzt einfach ein bisschen langsamer Jungchen“ an, während der Kleine auf sein Rad stieg und mit derselben Geschwindigkeit und derselben guten Laune weiter über den Gehsteig raste. Der Vater erklomm sein Velo ebenfalls wieder mit einem erleichterten Lächeln. Ich hauchte dem Mann ein mitfühlendes „Au, das muss stark geschmerzt haben“ zu, der Vater nickte. Aber was das wichtigste war: die Situation war gerettet, keiner musste die Feuerwehr oder den Notarzt alarmieren. Alles war gut.

Was für Eltern klappt, kann für Staaten nicht verkehrt sein. Ein Staat ist doch im Grunde nichts anderes als eine große Familie, die von den weisesten, klügsten Köpfen regiert wird. In Italien funktioniert deshalb dieses „Alles ist gut“-Prinzip hervorragend. Je steiler es mit der Wirtschaft in Italien bergab ging, desto öfter ließ Berlusconi sein Lächeln liften. Die Wirtschaftskrise wurde einfach totgeschwiegen, der Premier behauptete vehement, dass Italien nicht davon betroffen sei, weil es anders funktioniere als der Rest der Welt. Alle Kinder glaubten ihm. Wer die große Wirtschaftszeitung des Landes aufschlägt, wird sich ebenfalls davon überzeugen können, allein schon ihr Name „24 Stunden Sonnenschein“ lässt nur Gutes erahnen. Die Sonne und ein lächelndes Gegenüber machen die Menschen sorglos und sie können sich um die wichtigen Dinge in ihrem Alltag kümmern, ihre Beziehung zum Nachbarn verbessern, Freundschaften aufbauen und an der Liebe arbeiten. Nur wer seinen Blick allzu scharf auf etwas richtet und einer Sache allzu viel Aufmerksamkeit schenkt, wird mit Sicherheit auf ein Problem stoßen. Journalisten beispielsweise stecken ihre Nase in jeden Dreck und wundern sich dann, wenn es stinkt.
Neapel wurde dank der Medien mit vielen Vorurteilen bestückt und sein Image stark beschädigt: man hört nur noch schlechte Sachen von dort, als wäre es ein Krisengebiet: von Müll und Mafia ist die Rede und grimmige kleine Italiener schleichen sich in die Gedanken, mit jeweils einer Pistole in der einen und einem Müllsäckchen in der anderen Hand. Doch wie immer darf man den Medien nicht zu viel Glauben schenken und sollte sich selbst sein eigenes Bild von der Stadt machen. Dann merkt man auch schnell, wie freundlich und kommunikativ die Bewohner sind und dass man nichts fürchten muss, solange man sich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort befindet und seine Handtasche immer schön festhält.

Das Klima ist traumhaft, die Architektur erwärmt das Herz. Die Sonne brennt mit vierzig Grad auf die Hafenstadt, doch die Hitze wird in den engen Gassen nicht als drückend empfunden. Immer wieder fallen erfrischende Wassertropfen vom blauen Himmel. Die Bewohner hängen aus Platzmangel in den Wohnungen ihre Wäsche zum Trocknen auf Leinen, die hoch über der Fußgängerzone von einer Häuserreihe zur gegenüberliegenden gespannt sind. So flattern in der ganze Stadt Unterhosen in der Luft, wie andernorts Wimpel der traditionellen Adels- und Kaufmannfamilien.
Der Vesuv erhebt sich stolz in der Ferne, vom Golf blitzt funkelnd das Wasser im Sonnenschein und ein Lächeln huscht über die Gesichter der Menschen. Irgendwo wird immer getanzt, oder geheiratet, applaudiert oder gerannt. Irgendwo hört man immer den explosiven Verbrennungsmotor einer Vespa. Die Menschen sind gelassen, ohne Hektik pflücken sie Zitronen vom Baum des Nachbarn oder zünden für den Schutzheiligen ein Kerzlein an.

San Gennaro ist der geistige Patron Neapels. Er starb als Märtyrer, und von seinem Blut blieben einige Tropfen erhalten. Sie wurden in einer schönen Monstranz konserviert und sind eingetrocknet. Zweimal im Jahr verflüssigt sich das Blut wie durch ein Wunder und daraufhin werden die Gebete der Menschen für Fruchtbarkeit, Gesundheit oder ganz allgemein für ein besseres Leben, erhört. Der weltliche Volksheld dagegen ist nach wie vor Diego Armando Maradona. Der Ausnahmefußballer argentinischer Herkunft hatte es geschafft, den örtlichen Fußballverein 1984 zum Sieg in der Meisterschaft zu führen. Als dies vollbracht war, ging es plötzlich wie durch ein Wunder mit Neapels Wirtschaft steil bergauf, die Menschen schienen glücklicher, die Geburtenrate stieg, ihre Gebete waren erhört. Die Stadt ist mit kleinen Bittstöcken gepflastert. In jeder zweiten Ecke erhebt sich gleichermaßen ein kleiner Steinaltar auf einem Sockel, mit Blumen geschmückt und einem alten vergilbten Bild in der Mitte. Auch für San Gennaro werden manchmal solche Altäre gebaut.

Die Menschen kleiden sich sehr modisch. Seit die neapolitanische Unterwelt dazu übergegangen ist, chinesische gefälschte Markenartikel zu fälschen, kann sich jetzt wirklich jeder das Chanel-Imitat leisten. Das Handelsmonopol für imitierte Handtaschen liegt fest in der Hand afrikanischer Einwanderer, weil sie die längeren Beine haben als Neapolitaner und wenn eine Polizeisirene ertönt, sieht man wie in Windeseile die Decken, auf denen die guten Stücke thronen, zusammengepackt werden und in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben wird. Auf dieses Ereignis warten die Städter, wie auf die Pilzesaison in den Wäldern. Eine Handvoll Taschen bleiben in der Regel immer als Kollateralschäden auf der Strecke und so liegen in Neapel die Gucci-Taschen buchstäblich auf der Straße herum und warten auf ihre neuen Besitzer.
Die Unterwelt hat ihren eigenen Reiz in Neapel: Sie erstreckt sich über zwei Millionen km² unterhalb der Stadt. Dieser sogenannte Sottosuolo ist ein Labyrinth aus geheimnisvollen Gängen und Stollen. Vor etwa dreitausend Jahren wurde in Neapel begonnen Tophus abzubauen. Das magmatische Gestein findet sich in der Nähe des Vesuvs massenhaft und ähnelt in seiner leichten Verarbeitung dem herkömmlichen Kalk. Man benutzte ihn um die zahlreichen Tempel und Amphitheater zu errichten. An den Mauern zum Untergrund lassen sich Einflüsse der griechischen Architektur ablesen. Vor einigen Jahrhunderten haben die Römer den Sottosuolo zu einem Aquädukt umfunktioniert und ihm sein heutiges Gesicht gegeben. Die Gänge erstrecken sich fast über die gesamte Stadtfläche, besser gesagt unter ihr. Touristengruppen scharen sich in Massen vor den Eingängen und werden gebückt und mit einer Kerze bewaffnet durch die engen Gänge geschleust und gedrückt bis sie zu den kleinen Stauseen und zu den Überresten des unterirdischen Amphitheaters kommen. Wer sich dort hinunter wagt, sollte weder an Klaustrophobie leiden, noch allzu weit vom optimalen Bodymaßindex nach oben hin entfernt sein.

Eine Führung dauert gleich mehrere Stunden um den Eindruck von der Weitläufigkeit und der Größe dieses Untergrunds vermitteln zu können. Die Touristenführer erzählen ausführlich und voller Enthusiasmus von der Erbauung und Nutzung der Stollen, von den Theateraufführungen unter Tag, als sich die Menschen noch für Kultur interessierten und darüber, dass Neapel erst vor kurzer Zeit die Stollen für Touristen und Publikum freigab. Während der Zeit der Weltkriege hatten die Stollen noch als Unterschlupf und Katakomben gedient, aber nachher sei es still geworden im Sottosuolo. Ich fragte nach, was mit der große Fläche in der Zeit danach passiert war, bis zur Öffnung für die Touristen. Der nette Führer antwortete frei von der Leber, dass vorher der ganze Müll in den Untergrund geschüttet worden war. Irgendwo musste er ja hin. Erst als kein Platz mehr dort war, begannen die Diskussionen und Grübeleien, was mit dem Müll geschehen sollte. Erst als Politiker und die Mafia, bzw. die Ndrangheta gleichermaßen zu verhandeln begannen, wurde man sich darüber einig, dass es doch am besten für alle Beteiligten sei, den Müll, in dem Neapel zu versinken drohte, nach Deutschland zu exportieren.
Aber bis dahin lachte die Sonne über Neapel.

Samstag, 16. Oktober 2010

Ciao

Seit ich in Berlin lebe, ist kein Tag vergangen, an dem nicht in irgendeiner Weise von Migrationspolitik gesprochen wurde. Die Zeitungen sind voll damit, sobald ein Typ mit zwei verworrenen Thesen auf den Plan tritt spricht ganz Deutschland für Wochen von nichts anderem. Dann Herr Westerwelle, der sich nun auch noch die Frage stellt, was Deutschland eigentlich von seinen Einwanderern erwarten kann. Was die Einwanderer von Deutschland wollen. Dass sich in anderen Ländern die Einwanderer viel schneller entwickeln und wertvolle Beiträge für die Wahlnation bringen. Nun ja, nicht jeder Einwanderer ist ein Fußballgott.

Auf jeden Fall, wird das Thema hier sehr heiß diskutiert.

In Italien hat man bis vor einigen Jahren noch gar nichts über Migrationspolitik gehört. Zwar begrüßte man immer wieder mal den einen oder anderen Zuwanderer als Nachbarn und natürlich waren alle kriminell, aber Berlusconis Medien schwiegen weitgehend dazu.

Berlusconi ist ein sehr zuvorkommender und netter Herr. Er beschützt sein Volk wie ein liebender Familienvater. Weil er weiß, dass gewisse Sendungen, die im Fernsehen ausgestrahlt werden, nicht für Kinder geeignet sind, streicht er sie lieber ganz aus dem Programm, oder macht das Format kindgerecht. Dazu gehören alle Horrorgeschichten, wie breitgefächerte und fundierte Nachrichten und die Wahrheiten über das eigene Land.

Um die wirklichen Nachrichten über Italien zu hören, musste man immer schon die Kanäle der Nachbarländer einschalten. Aber weil außerhalb von Südtirol fast kein Italiener Deutsch spricht, wissen sie natürlich auch nicht, was in ihrem eigenen und den unmittelbaren Nachbarländern passiert.

In allen umliegenden Ländern ist bereits seit den Neunziger Jahren von Einwanderungswellen die Rede, jede Nation geht anders damit um: Deutschland versuchte es auf eine noble und altruistische Art: kommt alle. Dabei sollte sich kein Bürger darüber aufregen. Deutschland darf das nicht, wegen seiner jüngsten Geschichte.

Österreich zeigte seine Fremdenfeindlichkeit ganz offensichtlich, obwohl es für die junge Geschichte irgendwie mitverantwortlich ist und wurde dafür schon von Amnesty international gerügt. Frankreich benahm sich ebenfalls nicht zimperlich gegenüber Personen mit Migrationshintergrund und das bereits seit den 60er Jahren, nachdem der große Wirtschaftsboom wieder abgeklungen war und die Gastarbeiter wieder unerwünscht.

Nur in Italien: kein Meckern, kein Zetern, kein Problem. Alles eitel Sonnenschein? Migration war und ist auch in Italien ein Thema, das im alltäglichen Leben wahrgenommen wird. Zum einen, weil Italien selbst in der Geschichte viel emigriert ist, vor allem nach Deutschland und Amerika. Und andererseits weil Italien sich am äußersten Rande Europas befindet und zu 75 % aus Küste besteht. Albanien, Rumänien und Afrika liegen in unmittelbarer Nähe, nicht mal einen Daumenbreit auf der Landkarte entfernt. Ein afrikanischer Prinz, der in Österreich studierte, fragte mich einmal, ob die Albaner Italiens Türken seien. Es stimmt, im Vergleich zu Deutschland und Österreich leben in Italien sehr wenige Türken. Ich bestätigte, warf aber ein, dass das vielleicht für den größten Teil des Landes gelte, dass aber Südtirols Türken die Deutschen seien.

Der größte prozentuelle Anteil an Ausländern, die in Südtirol leben, stammt aus Deutschland. Das sind die Schlimmsten: sie arbeiten nämlich nicht im Bau- und Gastgewerbe oder eröffnen alle fünf Meter eine leckere Imbissbude: nein, die angeln sich die tollsten Jobs, heiraten die schönsten Frauen und die smartesten Junggesellen, tragen dadurch zum Aussterben der Südtiroler Herrenrasse bei, wollen obendrein auch noch ordentlich Kohle scheffeln und sind manchmal sogar andersgläubig: evangelisch und nicht katholisch: . Deutschländer überrollen Südtirol: ab dem ersten Frühlingswochenende ist die ganze Autobahn von München bis Verona verstopft. Die Deutschen nehmen mit ihren Segelbooten und Campern Angriff auf das Gardameer oder Jesolo. Die Ferienhäuser sind fast vollständig von Mitgliedern der Bundesrepublik bewohnt, die meisten Gastwirte haben dem Druck nachgegeben und auf deutsche Sprache umgestellt, mit Erfolg. Jeder behauptet zwar immer Italienisch sei eine so einfache Sprache, wegen seiner Grammatik und weil überhaupt alles so wunderbar romantisch klinge, aber die meisten haben noch nicht kapiert, dass es nicht Bruschetta heißt, sondern dass dieses h das c zum k macht und das T mit wenig Luft gesprochen wird. So einfach ist das.

Italienisch ist in der Tat eine sehr einfache Sprache: es gibt zum Beispiel für hallo und tschüss nur ein Wort: CIAO. Mit o am Schluss, nicht mit u. Allein vom Wort wird also noch nicht die Absicht der Aussage klar. Das klingt verwirrend, vereinfacht aber im Grunde die Kommunikation und ist auch für Nichtkenner der italienischen Sprache sofort verständlich. Eine einfache und klare Kommunikation wiederum verhindert Auseinandersetzungen und schwierige Fragen und das ist ein typisches Charakteristikum der italienischen Kultur. Bis vor wenigen Jahren, erlebten dies illegale Einwanderer am eigenen Leib. Denn nicht nur im Norden legen Boote an, sondern an allen Küsten Italiens. Allerdings keine großen ausstaffierten und mit Liebe betitelten Segelboote, sondern kleine Schollen mit viel zu vielen Menschen an Bord. Wenn es diese Boote schafften, sicheres Land zu erreichen, wurden sie meist schon von der zuständigen Küstenwache in Empfang genommen. Die sympathischen Herren begleiteten ihre Gäste in die Begrüßungslager und drückten ihnen mit einem Lächeln und einem herzlichen Ciao einen Umschlag in die Hand. Als die Neuankömmlinge die Umschläge öffneten, huschte ihnen ebenfalls ein Lächeln um die Mundwinkel, sie antworteten mit einem ebenso freundlichen Ciao und setzten sich wieder in Bewegung. In den Umschlägen befanden sich vom Staat Italien bezahlte Zugtickets nach Deutschland.

Dienstag, 28. September 2010

Der Bademeister

Die deutsche Sprache unterscheidet sich sehr von der italienischen. In Deutschland wird versucht in jede Berufsbezeichnung die Würde und die Verantwortung zu packen, deshalb spricht man von Shopmanagern statt Verkäufern und von Reinungsfachkräften anstelle von Putzpersonal. Und demgemäß wird der Berufszweig auch besetzt.

Das wichtigste beim deutschen Bademeister ist, dass er vertrauenserregend oder furchteinflößend wirkt und sich seine Überlegenheit klar zeigt. Es handelt sich um Männer mittleren Alters, die verantwortungsvoll auf ihren Hochstühlen sitzen, vielleicht einen kleinen Bierbauch vor sich hertragen, oder einen Schnurrbart, aber ernst und unantastbar aussehen. Wenn sie pfeifen, dann wird pariert, sie überblicken mit Argosaugen die Gesamtsituation im Auftrag des Systems und sind vor pubertierenden Jungs gewappnet. Die Befehle der Meister durchs Megaphon klingen wie beim Militär. Wie ernst die Bademeister hierzulande ihre Arbeit nehmen, wurde mir in einem Freibad in Berlin klar: Ich lag in der Wiese nahe am Schwimmbecken und las mit Spannung Dostoevskijs „Schuld und Sühne“. Am Nachmittag zogen sich die Wolken zusammen und es sah nach Regen aus. Plötzlich knirschte der Lautsprecher und ein Bademeister meldete mit ernster und blecherner Stimme, dass die Rutsche ab sofort wegen einer Unwettermeldung gesperrt sei. Alle die sich schon auf der Treppe oder unmittelbar vor der Rutsche befänden, sollten unverzüglich umdrehen und herunterkommen. Drei Jungens pfiffen auf die ernstgemeinte Warnung und rutschten doch noch frech hinunter: Rambo, Rocky Marciano und Jean Claude van Damme, Helden ihrer Zeit, alle anderen drehten brav um und folgten den Anweisungen.

Fünf Minuten später eine erneute Durchsage: "Aufgrund der Unwetterwarnung werden alle Badegäste aufgefordert, unverzüglich aus dem Wasser zu kommen."

Ungefähr zweihundert Badegäste leisteten keinen Widerstand und folgten der unbekannten Stimme. Wohlgemerkt, bis dahin war weder ein Regentropfen vom Himmel gefallen, noch ein Donnergrollen aus der Ferne zu hören gewesen. Doch vorsorglich waren alle im Trockenen.

Die dritte Meldung klang noch gefährlicher: "Aufgrund der Unwetterwarnung, sind die Ausgänge ab sofort geöffnet." Allgemeine Aufbruchsstimmung machte sich breit, überall sah man Familien, die ihre Siebensachen packten, ein Vater der gemeinsam mit seinem Sohn das Handtuch zusammenfaltete, kleine Mädchen, die traurig ihren Schwimmanzug mit der Unterwäsche tauschten. Was für ein bitteres Ende.
Wieder rauschte das Mikrophon: "He Leute, das war ein Missverständnis, ihr braucht nicht alle zu gehen, wir haben ein überdachtes Café und eventuell kann man sich auch in den Umkleidekabinen unterstellen, wenn das Unwetter kommt. Sobald es aber vorbei ist, kann der Badebetrieb wieder normal weitergehen."
Die Menschen blieben ratlos einfach dort stehen, wo sie sich befanden. In dieser Haltung ähneln sie Kühen, die sich auch vor Gewittern prinzipiell nicht mehr bewegen.

Ich beschloss ins Café zu übersiedeln und dort weiterzulesen, damit ich, sollte das Unwetter denn dann endlich über uns hereinbrechen und sich die Regenmassen und Schutzsuchenden in Bewegung setzen, schon einen Platz unter einem Sonnenschirm hatte. Dort angekommen vertiefte ich mich wieder in meine Lektüre. Raskolnikov hatte soeben den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen und Razumichin beauftragt für seine Schwester und Mutter Sorge zu tragen. Als der Held sich zu Sonja begab und sie bat, die Auferweckung des Lazarus aus der Bibel zu rezitieren, war ich geblendet von den ergreifenden Worten des neuen Testaments und setzte meine Sonnenbrille auf. Nachdem Raskolnikov Sonjas bedingungslosen und naiven Glauben zu Gott in Frage gestellt hatte, spürte ich wie mein rechter Arm sich erwärmte. Ich schaute nach oben, die Wolken hatten sich verzogen und die Augustsonne brannte wieder vom strahlendblauen Himmel, die Kinder hockten aber immer noch erwartungsvoll am Rand des Schwimmbeckens. Nach einer weiteren Viertelstunde des Wartens stellte ein Sohn seiner Mutter die alles entscheidende Frage: "Mama, warum dürfen wir nicht ins Wasser?"

Und die Mutter antwortete klug und brachte ihrem Jungen eine wichtige Lektion des Lebens bei: "Weißt du, wenn so ... wichtige .. äh Institutionen Entscheidungen treffen, dann können sie die nicht einfach gleich wieder rückgängig machen."

In Italien ist das alles ein bisschen anders, Italiener sind Ästheten. Bademeister sein ist weniger ein Beruf, als vielmehr eine Berufung. Der Auserwählte sollte etwas von Michelangelos David haben, nur weniger blass und etwas von einem Komödiant, dem in jedem Moment des Tages ein flotter Spruch auf der Zunge liegt. Voraussetzungen für die Arbeitseinstellung sind jugendliche Schönheit, Muskeln an allen ausgewiesenen Stellen, braungebrannte Haut und Charme. Der schöne Bademeister gehört zu den italienischen Bädern, wie die Versicherungspolizze zum PKW. Es verhält sich ein bisschen so, als würde man zusammen mit dem Eintrittspreis ins Schwimmbad, diese Chlor-Erotik, wie ein Freund von mir es sehr treffend ausdrückte, mit erwerben, so wie man in einer modernen Schwimmanlage ein fünfzig Meter-Becken, eine Liegewiese und ein Volleyballfeld irgendwie voraussetzt. Die Menschen, die ins Schwimmbad gehen, genießen ihren freien Tag und wollen nicht beaufsichtigt und herumkommandiert, sondern unterhalten werden: Der Bademeister muss ein Genuss fürs Auge sein, omnipräsent. Er ist ein Kommunikationsförderer, lockert die Zungen und Herzen und er muss es aushalten können, wohin er sich auch wendet, die Blicke der Menschen auf sich zu ziehen. Er ist ein Vorbild für pubertierende Jungs, vergessen sind Rocky Marciano und Rambo, die ein viel zu gefährliches Leben haben, und eine Augenweide für Mädchen und lang verheiratete Frauen. Der Bademeister ist mit allen per Du, kennt im groben die wichtigsten Eckdaten im Leben einer jeden Dame und natürlich ihren Familienstand. Der Beruf ist sehr sozial. Bademeister sein verpflichtet auch mit den weniger schönen Fräuleins zu flirten. Auch sie stehen scharenweise in ihren knappen Zweiteilern nah am Beckenrand und betteln den vorbeikommenden Charmebolzen mit Bambiaugen und quietschender Stimme an: „Nicht schubsen, nichts schubsen!“ Und der Bademeister macht seine Runden, schubst mal hier und mal dort jemanden ins Wasser, erzählt Anekdoten aus seinem Alltag, belebt eingeschlafene Beziehungen, indem er seine Hand vor den Augen des Partners um die Hüfte der Liierten legt, küsst die Hände der älteren Generationen und bringt ihr Blut in Wallung, besser als jedes blutdrucksteigende Medikament aus der Apotheke. Das ist oftmals eine schwere Bürde, der nicht jeder gewachsen ist. Wer behauptet, ein italienischer Bademeister lehne den ganzen Tag lässig in seinem Stuhl, lege die Beine hoch und warte bis die schönsten Kurven in den passendsten Bikinis antanzen, die ihren Abend retten wollen, irrt.

Ein Retter kommt im Italienischen Wort nicht vor, nicht einmal ein Meister. Bagnino könnte in freier Übersetzung ein „Bädchen“ sein, bzw. der Mann der sich im Bad aufhält. Anhand der Berufsbezeichnung erkennt man noch keine konkreten Aufgaben. Letztens war ich mit einem Bädchen im Schwimmbad. Wir hatten uns verabredet, ich war etwas nervös: Schwimmen mit einem Bademeister, er würde sicher schon drei Bahnen zurückgelegt haben, während ich noch mit der großen Zehe die Wassertemperatur abschätzte. Wir sprangen zeitgleich ins Wasser, ich schwamm, wie ich es beim Training gelernt hatte: Kopf unter Wasser, einen kräftigen Stoß mit den Beinen und während dem Luftholen stark mit den Armen nachziehen. Etwa bei der Hälfte des Fünfzigmeter Beckens schaute ich kurz auf um zu sehen, ob mein Bekannter schon am anderen Ende des Beckens lässig am Rand hockte und mit zwei Mädchen anbandelte, doch weit gefehlt: auf italienisch nennt man Brustschwimmen zwar Froschstil, aber das Bädchen glich eher einem nassen Pudel: den Kopf über Wasser gehalten, damit seine langen Haare sich nicht kräuselten, paddelte er unsicher in einem erstaunlich gemütlichen Tempo durch die Fluten.

Als ich ihn auf dem Nachhauseweg auf seine leidlichen Schwimmkünste ansprach meinte er nur: „He ich bin Bagnino und kein Langstreckenschwimmer. Die meisten Kinder saufen recht nahe am Rand ab und auf Erste Hilfe Maßnahmen verstehe ich mich blendend, wenn Du verstehst was ich meine.“

Ich sah ihn an, eins konnte man ihm nicht streitig machen: er war ein schöner Mann, eine Bereicherung für jedes Freibad.

Sonntag, 26. September 2010

Klassentreffen

Letztens war ich auf einem Klassentreffen: zehn Jahre sind vergangen seit ich viele meiner Mitschüler zum letzten Mal gesehen habe, zehn Jahre seit dem Abitur bzw. der Matura. Abiturire bedeutet im Lateinischen abgehen, maturire, reifen. Während in Deutschland also ein Schüler nach dem anderen abgeht, setzt Italien implizit voraus, dass seine Studenten während ihrer Schulzeit eine gewisse Reife fürs Leben mitgenommen hätten, und als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft entlassen werden.
Es waren knapp über zwanzig Leute in der Klasse und doppelt so viele Mädchen wie Jungs.
Die Mädchen waren die Tonangeber: sie waren fleißiger, mutiger, hatten die größere Klappe und brachten sich aktiv in den Unterricht ein. Von den sieben Jungs in der Klasse hörte man nie viel: zwei waren überdurchschnittlich begabt und mussten deshalb keine Fragen stellen und alle anderen waren das genaue Gegenteil davon und wussten deshalb die meiste Zeit nicht, was gerade anstand. Meine Fragestellungen beliefen sich bei der Mathematik der höheren Stufe, als wir die Funktionsgleichungen, Matrizen und Dinge wie Sinus und Cosinus durchnahmen nicht mehr darauf, wie ich zu einem Lösungsweg kam, sondern wie die Menschen hießen, denen solche Dinge eingefallen waren zu berechnen, ob es sich dabei um Frauen oder Männer gehandelt hatte, ob es Einzelkinder oder Kinder gewesen waren, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten und wann ich im realen Leben damit rechnen müsste, auf solch diffizile mathematische Probleme zu stoßen.
Die Mädchen waren emsig und strebsam, sie erfüllten ihre Pflicht, lieferten sich Wettrennen, wessen Heft am schönsten gestaltet war oder waren die meiste Zeit damit beschäftigt, heimlich und unauffällig etwas zu essen. Der Großteil der Klasse war durchschnittlich, die meisten maßen der Schule keine grandiose Bedeutung bei. Sie wurde absolviert, weil es Mitte der Neunziger Jahre schon Usus war, einen höheren Abschluss als die mittlere Reife anzustreben. Zum Arbeiten war es noch zu früh, eine Lehre wollte man nicht, daher war es doch ganz gemütlich ein paar Jahre in der Schule abzusitzen. Wir waren weder an der Umgestaltung der Gesellschaft noch an der Politik sonderlich interessiert, Viel mehr interessierten wir uns für Musik, für die Party am Wochenende und dafür, mit unseren Freunden so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Am Freitagnachmittag gleich nach der Schule ging die wilde Sause los, bis in die frühen Morgenstunden wurde getanzt und gezecht, was das Zeug hielt. In der Disko im Nachbarsdorf, traf sich die gesamte Szene: die hübschen Mädchen und die coolen Jungs, die verfeindeten Burschen der nahegelegenen Dörfer und auch alle anderen: dort wurde geknutscht und zusammengeschlagen, dort entstanden die neuesten Paare, dort verließ man sich, und grölte gemeinsam zu den lieblichen und melodischen Klängen von Scooter. Die Techno- und Hardcorewelle war bis hinter die Berge von Südtirol vorgedrungen und wir sangen mit zu prägenden Sätzen wie: „Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu sein! – Hardcore!!!“ Und nett waren wir alle. Das höchste Ziel war es, am Samstagmorgen betrunken in die Schule zu torkeln, um zu sehen, wer es nicht geschafft hatte um acht Uhr morgens wieder aufrecht auf seinen Beinen zu stehen. Die Weltliteratur tangierte die meisten nur peripher. Über die fünf Bücher, die im Laufe eines Schuljahres gelesen werden mussten, regten sich die meisten nur auf, dass es eine Frechheit sei, so viel Geld fürs Lesen auszugeben, dass wir doch schließlich Studenten waren, die nicht im Geld schwimmen würden. Die Professorin für deutsche Literatur konterte, dass angesichts der regelmäßigen Schnapsleichen für sie klar hervorgehen würde, dass Kapital anscheinend nicht das Problem war, sondern nur die sinngerechte Verteilung und sie sicher sei, dass nach einer solchen dann auch Bernhards Schlinks Vorleser ins Budget passen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die erste Hälfte des „Vorlesers“ für die meisten Jungs der Klasse das einzige Buch ihrer Schulkarriere war, das sie auch wirklich gelesen haben, nachdem sie von den Mädchen vernommen hatten, dass darin Sexszenen vorkamen.
Unsere Interessen waren also vorwiegend sozialer Natur: wer mit wem und wer mit wem warum nicht mehr? Kleider machten auch damals schon Leute, aber unsere Mode war nicht aufregend und individuell, sondern passend zu den 90ern preiswert und auf die beginnende Massenabfertigung getrimmt. Die tollste Marke hieß H&M, weil man dafür über eine Stunde Autofahrt hinnehmen und nach Österreich fahren musste. Ins Ausland also.
Die Ziele und Berufswünsche der Einzelnen wichen stark ab von dem ab, was wir lernten: 15 Stunden Buchhaltung in einer Woche, dazu noch 11 Wochenstunden Rechtskunde und Volkswirtschaftslehre und 2 Wirtschaftsgeographie waren genug, um vielen die Laune und das Interesse an Bilanzabschlüssen zu versauen. Stattdessen schwärmten die Leute davon, ins Ausland zu gehen, die Welt zu entdecken, einer wollte ein großer Ethnologe werden, die Völker näher kennenlernen und studieren, ein anderer wollte in Bayern in die Partyszene eintauchen und ein Lokal in München eröffnen, einer wollte sich mit den Fragen der Psychologie auseinandersetzen. Die Mädchen träumten davon Designerin zu werden, oder zur Polizei zu gehen. Zum Fernsehen wollte keiner, ebenso wenig Schauspieler werden. Nur ein kleiner Prozentsatz strebte das Ziel an, als Manager oder Wirtschaftsboss erfolgreich zu werden oder in einer Bank unterzukommen.
Seit diesen wilden Zeiten waren wie gesagt zehn Jahre vergangen und ich war mir sicher, dass viele zur Ruhe gekommen waren und nach der ganzen Küsserei ihren idealen Traumpartner gefunden und an ihrer Karriere gefeilt hatten. Ich war schon sehr gespannt, was aus meinen Mitschülern geworden war: wer hatte sich selbständig gemacht, hatte kleine spannende Unternehmen gegründet, wer war Bankmanager der Kleinstadt, wer hatte eigene Kanzleien als Wirtschaftsberater eröffnet? Was war designt worden und welche fremden Völker entdeckt. Die Mitschülerinnen stellte ich mir in ihrer Doppelrolle als elegante Businessfrauen mit jeweils einem Kind am Aktenkoffer vor.
Ich ging also zum Klassentreffen mit den größten Erwartungen. Ich setze immer die größten Erwartungen in meine Mitmenschen. Es wurde ein sehr lustiger Abend. Wir aßen ausgiebig, feierten und tanzten wild bis in die Morgenstunden im einzigen Nachtlokal der Kleinstadt. Eine Mitschülerin rutschte vor lauter Enthusiasmus beim Tanzen aus, ein andere küsste einen jungen Mann, vor dem Lokal wollte ein Bekannter aus einem umliegenden Dorf einen anderen aus einem entgegengesetzten Dorf verprügeln. Um acht Uhr morgens fiel ich kopfüber ins Bett und zog Bilanz: von 23 Leuten waren drei Viertel der Klasse Sesselpupser geworden, nur eine hatte sich als Hüttenwirtin selbständig gemacht, kein einziger hatte jemals geheiratet, nur eine Mitschülerin war Mutter geworden. Der Mitschüler mit der höchsten Punktezahl beim Abitur, von dem wir alle gedacht hatten, er würde in die Welt hinausziehen um sie zu verändern, ist jetzt Bademeister. Aber nett sind sie noch immer.

Freitag, 17. September 2010

Über Vorurteile usw.

Adriano Celentano ist ein großer Philosoph. Er singt in einem der bekanntesten italienischen Lieder (Il tempo se ne va) über seine vierzehnjährige Tochter. Er singt darüber, wie ergreifend es für einen Vater ist, seine kleine Tochter heranwachsen zu sehen. Zu bemerken, dass sein kleiner Engel plötzlich am Telephon Geheimnisse hat, die Barbie in die hintere Ecke des Schranks wirft und ihre Söckchen gegen Nylonstrümpfe tauscht. Ganz plötzlich hat er bemerkt, dass sie erwachsen wird und wie die Zeit vergeht. Die Dinge fallen dem Mensch immer ganz plötzlich auf. Lange Zeit bleiben Veränderungen unbemerkt, bahnen sich an, gehen schleichend vor sich, um dann in einem unscheinbaren Moment in ihrem ganzen Ausmaß fassbar zu werden.

Mit vierzehn will man Kinder noch beschützen und doch müssen Eltern erkennen, dass der Einfluss auf sie langsam zurückweicht. Auf die ersten Pickel folgt der erste Freund und bald schon nach dem ersten zaghaften Kuss jagt eine Party die nächste bis in die frühen Morgenstunden und die Eltern liegen mit offenen Augen wach im Bett.
Eltern versuchen ihre Kinder vor den Gefahren zu schützen, denen sie selbst begegnet sind, nur haben sich die Zeiten und die Umstände in Vielem geändert. Meine Mutter beispielsweise warnt mich noch immer davor, im geschlossenen Zugabteil nicht auf dem letzten Fensterplatz zu sitzen, sondern doch eher bei der Tür, damit ich, falls mir ein Mitfahrer etwas böses will, schnell aus dem Zugabteil laufen und das Bordpersonal alarmieren kann. Sie hat mich auch immer davor gewarnt, nicht Autostopp zu machen und zu keinen Fremden ins Auto zu steigen.

Viele Gefahren, vor denen uns unsere Eltern warnten, haben bereits der Fortschritt und die Technik, oder der Staat bzw. private Unternehmen gebannt. Im Zug gibt es heute nur noch sehr wenige geschlossene Zugabteile. Um den passenden Anschluss am richtigen Gleis zu erwischen, muss man sich nicht mehr nach einem Schaffner oder nach einer Anschlagtafel orientieren, sondern nur mehr auf das Iphon schauen. Um überhaupt ein Zugticket zu ergattern, muss man sich auch nicht mehr drei Tage vorher zum Zugbahnhof bemühen, sondern die Buchung kann ganz gemütlich von zu Hause aus über Internet vorgenommen werden. Im Urlaub quillt aus den Socken nicht mehr Unmengen von verstecktem Bargeld, sondern die Leute verlassen sich auf Bankomatkarten, auf Kreditkarten und auf schnell aufladbare zweite Kreditkarten. Auch stoppt man heute nicht mehr einfach so Autos am Straßenrand, sondern schaut ebenfalls ins Internet. Im Internet gibt es jetzt alles, was es früher im realen Leben gab. Also ist die größte reale Gefahr heutzutage, in einem Funkloch zu landen. Die Trödelmärkte werden von ebay verdrängt und das Autostopp von Mitfahrgelegenheiten. Ist doch auch viel praktischer. Jemand schreibt auf eine offizielle Plattform sein Pseudonym, seine email und Telephonnummer, den Abfahrts- und den Zielort, die Uhrzeit und wie viel er fürs Mitfahren verlangt. Der Interessent telephoniert kurz mit dem Anbieter, es wird eine Bestätigungsemail geschickt und schon hat man der Warnung seiner Mutter Folge geleistet, denn dann ist der Autofahrer schon kein Fremder mehr.

Bis jetzt hatte ich solche Mitfahrgelegenheiten gemieden, zu gefährlich und unbekannt schien mir das Ganze. Doch meine Freunde aus der Großstadt schwören darauf und berichten mir, wie oft sie solch einen Service schon in Anspruch genommen haben, wie praktisch und wie zufrieden sie damit sind. Ich dachte mir, meine übersteigerte Vorsicht rühre von der Kleinstadt her, wo jeder einander beim Vor- und Nachnamen bis in die dritte Generation kennt, und ließ mich überzeugen, über meinen Schatten zu springen und einen Versuch zu wagen. Mutig rief ich vor einigen Monaten einen Herrn an, der die Strecke von Berlin nach München in einem großen Jeep fahren wollte. Ein sicheres Auto schien mir sehr wertvoll, mein Berliner Freund streckte beide Daumen hoch in die Luft, als ich schweißgebadet das Telephon zur Hand nahm und die fremde Nummer wählte. „Jo hallo grießti, wer spricht denn do“ dröhnte ein bayrischer Kontrabass über die Satellitenschüssel bis in mein Ohr. Ich sah mich schon durch einen Wurstwolf gedreht, zu Frikadellen oder Buletten weiterverarbeitet und legte schnell auf.

Doch die Versuchung ließ nicht ab von mir. Seit November letzten Jahres unterlieg ich ihr. Zu süß klingt sie, zu günstig und bequem die Mitfahrgelegenheit im Gegenteil zur überteuerten deutschen Bahn. Deshalb versuchte ich es erneut und verdrängte die Worte meiner Mutter: die Warnungen vor bösen Männern, die Mädchen im Auto mitnehmen und verschleppen, bis ans Ende der Welt, oder aber mindestens bis in den Osten. Die Warnungen haben sich in mein Gehirn geprägt, wie der Bundesadler auf die 2€-Münze. Und vorgeprägte Meinungen bezeichnen wir mithin als Stereotype. Lange Zeit hat Deutschland versucht sich von Vorurteilen zu befreien. Im Zuge der Migrationspolitik wollte sich das Land als eine transnationale Nation sehen, in der jeder Bürger die gleichen Rechte, Möglichkeiten und Pflichten hat, ohne Unterschiede nach Herkunft, Geschlecht oder Bildungsstatus zu machen. Die große Diskussion, die die vermeintlichen Thesen von Herrn Sarrazin losgetreten hat und die Tatsache, dass viele Kinder der dritten Migrantengeneration noch immer nicht deutsch genug sind, hat gezeigt, dass sich die Theorie eines vorurteilslosen Multikulti das sich zu einer großen Kultur verbindet, bis jetzt noch nicht ganz in die Realität umsetzen ließ.

Ich muss zugeben, als ich den Namen Sarrazin zum ersten Mal hörte, wusste ich nicht, wie er auszusprechen war. Intuitiv betonte ich abwechslungsweise ein englisches Sarräisin, ein französisches Sarrasó oder ein polnisches Sarraschin. Dass Sarrazin deutsch sein könnte, darauf wäre ich nicht gekommen. Aber ich weiche ab.
Ich hatte mich vor dem Münchner Bahnhof mit meiner Mitfahrgelegenheit verabredet. Der Name des Fahrers klang italienisch, als wir telephoniert hatten, war zwar ein starken Akzent hörbar gewesen, doch wer spricht in Deutschland schon akzentfrei? Ich wusste nicht, wohin ich den Mann einordnen sollte, soviel war aber klar, aus Sachsen kam er nicht. Als ich ihn dann sah, blieb mir vor Schreck fast das Herz stehen. Meine Mutter erschien vor meinem inneren Auge und ich hörte ihre Stimme: „Siehst Du Marion, ich hatte recht.“ Sie war schon immer sehr wortgewandt gewesen meine Mutter und meine blühende Phantasie hatte dazu beigetragen klischeehafte Schreckensgespenster und potenzielle Gefahren vor denen sie mich warnte, in allen Farben auszumalen. Doch die Realität übertraf meine Vorstellung bei Weitem:

vor mir stand ein großer schwarzer BMW mit bulgarischem Kennzeichen und geöffnetem Kofferraum. Als der Kofferraum zugeschlagen wurde blickte mir ein rauchender überdimensionaler älterer Bulgare entgegen. Sein Gesicht war ernst, seine Augen zugekniffen und er trug einen dunkelgrünen Frottee Turntrainer. Ich schluckte zweimal, dann drückte ich ein verkrampftes: „Hallo, sind Sie die Mitfahrgelegenheit“ heraus und schluckte gleich nochmal zweimal. Danach war mein Mund wie ausgetrocknet. Er schnaufte stark, als er meinen Koffer im Wageninneren verstaute und antwortete kurz angebunden mit „Ja“ oder „Da“.
Außer mir warteten noch zwei weitere Mädchen auf die Abfahrt. Ich begrüßte die beiden, sie schienen im Gegensatz zu mir ruhig und gelassen. Die eine war zart und dunkelhaarig, mit schwarzen Mandelaugen. Sie kam aus Persien. Die andere ein zierlicher blonder Engel aus einem zweihundert Seelen Dorf in der Nähe von Erding. Ich dachte daran, dass mir beide bei einem eventuellen Kampf nicht sehr hilfreich sein würden. Weil Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, beschloss ich im Auto vorne zu sitzen und den Herrn in ein Gespräch zu verwickeln. Ich bemerkte wie uns die Blicke der Leute verfolgten, als das unterschiedliche Vierergespann im Inneren des Wagens verschwand und in unbekannte Richtung losfuhr.

Die Angst lebt von der Phantasie, das Vorurteil von unbestätigten Fremdbildern. Nimmt man diese zwei Ingredienzen aus dem Pot bleibt in der Regel nicht mehr viel vom Klischee übrig. Wie sich herausstellte, arbeitet der gefährliche Herr für die bulgarische Botschaft und lebt aus beruflichen Gründen im Süden Deutschlands. Seine Frau und zwei Kinder wollten die ständigen Reisen und Versetzungen nicht mitmachen und blieben in Berlin. Deshalb legt der liebende Familienvater jedes Wochenende Hunderte von Kilometern zurück, um seiner Familie nah zu sein. Der Herr war überdies früher Opernsänger und beherrscht acht Sprachen fließend. Wir führten unsere Konversation bis nach Berlin auf Russisch und sangen zu Andrea Bocellis „Time to say good bye“ („Con te, partirò.“).

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